6:05.336: Die Rekordfahrt des Volkswagen ID.R

Er behielt einen kühlen Kopf: Der zweifache französische Le-Mans-Sieger Romain Dumas. Jetzt hat er mit dem Volkswagen ID.R nach seinem Gesamtrekord beim Pikes Peak Hill Climb-Rennen im vergangenen Jahr den Nürburgring-Rundenrekord für Elektroautos aufgestellt: Mit einer Rekordzeit von 6 Minuten und 5,336 Sekunden.

Der Rundenrekord für Elektrofahrzeuge wurde dort bisher von der chinesischen Markt Nio gehalten. Mit ihrem EP9 legte Nio im Mai 2017 eine überraschende Runde von 6 Minuten und 45,9 Sekunden zurück. Im Vergleich zum Volkswagen ID.R ist der EP9 mit 1000 kW gegenüber 500 kW im ID.R deutlich leistungsstärker. Der ID.R hat jedoch mit seinem deutlich geringeren Gewicht von weniger als 1100 kg einen deutlichen Vorteil gegenüber den 1735 kg, die der EP9 auf die Waage bringt.

Hans-Joachim Stuck, Rennsportlegende und Volkswagen-Repräsentant, gibt zu bedenken, daß die intensive Beschäftigung mit einem Auto nicht ausreicht, um auf dem Nürburgring schnell zu sein. Ein Fahrer sollte mindestens 500 Runden in der “Grünen Hölle” gefahren sein, um diese Strecke wirklich am Limit fahren und einen neuen Rekord aufstellen zu können.

Der entscheidende Rekord fällt sofort

Am 3. Juni 2019 um 10:10 Uhr überquerte der Volkswagen ID.R zum ersten Mal die Start- und Ziellinie für die sogenannte Installationsrunde. Genau 6 Minuten und 25,385 Sekunden später kam der ID.R zurück. Das bedeutet, daß Romain Dumas bereits in seiner Aufwärmrunde die EP9-Rekordrunde von Nio bezwungen hat. Und das war vormittags.

Um 10:32 Uhr nehmen Dumas und das Volkswagen-Motorsport-Team die nächste Rekordzeit in Angriff. Nicht irgendeinen Rekord, sondern die von Stefan Bellof 1983 im Porsche 956 gesetzte Zeit von 6:11,13. Ein paar Themen wie das Brake-by-Wire-System funktionierten beim ersten Versuch noch nicht zu 100 Prozent. „Mit einer neuen Rekordzeit, die bereits beim ersten Lauf herausgefahren wurde, ist der Hauptdruck, einen neuen Rekord abzuliefern, nun weg. Das Team kann jetzt sich darauf konzentrieren, ohne Druck das Auto weiter zu verbessern“, kommentiert Motorsportdirektor Sven Smeets.

Eine Stunde nach der Installationsrunde ist Dumas zurück im Auto: Jetzt geht es darum, eine weitere Referenz für Elektroautos am Ring zu setzen. Um 11:23 zischt er mit enormem Tempo über die Startlinie; der Hubschrauber verliert den ID.R einige Male, als er durch den dichten Wald rauscht, der die Nordschleife umgibt. Meine Stoppuhr zählt die Bellofsche Rekordzeit rückwärts, während Dumas die vier Kilometer lange Gerade an der Döttinger Höhe am Limit passiert: Der Elektro-Sportwagen regelt bei 270 km/h ab.

Die letzten 10 Sekunden sind ein Thriller. Ich höre den ID.R und den Hubschrauber mit hoher Geschwindigkeit herannahen, während die Uhr 6 Minuten heruntergezählt hat hat. Als Dumas über die Linie schießt, lautet die offizielle Zeit: 6 Minuten und 12,191 Sekunden. Etwas mehr als eine Sekunde über dem Bellof-Rekord! Jetzt hatte der Volkswagen ID.R bereits eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 201,5 km/h erreicht – ein enormer Wert.

Dumas kehrt in die Box zurück, angefeuert von Mitgliedern des Volkswagen-Teams und den geladenen Gästen. Er ist zufrieden mit seinem Versuch – und er weiß, daß es noch besser geht. 50 Minuten verstreichen, bis er wieder auf die Piste geht. Bleibt es trocken? Einige von uns verzichten lieber darauf, die dunklen Wolken am Horizont zur Kenntnis zu nehmen. Vorerst bleibt der Chefausbilder der Nürburgring-Fahrakademie Andy Gülden optimistisch. Mit einer Lufttemperatur von 24 Grad und trockener Strecke sind die Bedingungen sehr nahe am Optimum, und die Windrichtung ist aktuell zu unseren Gunsten.

Überraschungsbesuch zur Mittagspause

Es ist 12:34 Uhr, Mittagspause, Dumas erscheint überraschend im Hospitality-Zelt. Und kommt gleich zur Sache. Er ist glücklich, vor dem Mittagessen einen neuen Rekord aufgestellt zu haben, das er jetzt mit etwas weniger Druck genießen kann… aber er hat auch eine Ansage dabei: “Wenn das Wetter mitspielt, fahre ich sicher noch eine Runde. Es gibt weniger Druck als auf dem Pikes Peak, wo es nur einen Schuß gibt, um eine Rekordzeit einzustellen. Aber auch auf dem Nürburgring muß ich bereit sein und direkt vor der Startlinie pushen, da die Batteriekapazität für eine Einfahrrunde nicht ausreicht.”

Wie fährt sich das Auto? Dumas: “Der ID.R ist fantastisch, ich muß mich anstrengen, um die Grenzen des Autos zu finden. In der letzten Runde bin ich die Kurve vor der Döttinger Höhe zum ersten mal voll gefahren. Und ich bin vor dem Flugplatz bei 255 km/h leicht vom Pedal gegangen, das ginge noch schneller. Aber um genug Batterie für den Schluß zu haben, muß ich zu Beginn der Runde die richtige Balance finden.”

Um 13:39 beginnt der dritten Versuch – offiziell, um ein neues Setup für einen ultimativen Rekordversuch in der 4. Runde zu testen. Aber wider Erwarten schlägt Dumas seine letzte Rundenzeit mit einer 6-Minuten-9,039-Sekunden-Runde. Damit wurde die vor 35 Jahren gesetzte Rekordzeit von Stefan Bellof gebrochen – mit einem Elektroauto.

Sven Smeets kehrt zum Fahrerlager zurück und sagt: “Es wird immer schwieriger, die gesetzte Zeit zu verbessern. Alle im Team sind sehr glücklich und der Tag verläuft besser als geplant. Noch ein Versuch und wir werden weiterhin das Setup des Autos verbessern. Den allerletzten Lauf fahren wir mit dem zweiten Chassis, das die 6:12-Zeit vor dem Start eingestellt hat, und es funktioniert besser als das Chassis, das gerade die 6:09-Runde gefahren ist. Wir können uns also im letzten Lauf weiter verbessern.”

Inzwischen ist es 14:45 Uhr: Der letzte Lauf des Tages steht an. Dumas wirkt angespannt: Dies ist die letzte Chance, seine Zeit weiter zu verbessern. Mit einem “Whoosh!” überfährt er pfeilschnell die Startlinie. Auf zwei Bildschirmen werden Live-Aufnahmen aus dem Hubschrauber übertragen. Dumas drängt: Er bremst sehr spät im Karussell. Bei 5:30 nähert er sich der Döttinger Höhe, wir halten den den Atem an. Die 6:00 erscheint auf der Stoppuhr, nur wenige Sekunden später fliegt er um die letzte Ecke. Die finale Zeit: 6 Minuten, 5 Sekunden, 336 Hundertstel. Die zweitschnellste Runde aller Zeiten auf der Nürburgring-Nordschleife – mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 205,28 km/h – und die schnellste mit einem Elektroauto überhaupt.

Eine epische Leistung

Wir hatten erwartet, dass Romain Dumas schnell sein würde, aber nicht _so_ schnell. Volkswagen ist mit dem Ergebnis zufrieden, die ID.R-Entwicklung wird fortgesetzt. Die nächste Herausforderung: Der Gesamtrekord beim Hill Climb des Goodwood Festival of Speed im Juli.

Volkswagen hat zwar einen neuen Rekord für Elektroautos aufgestellt, der Gesamtrekord wird jedoch seit dem 29. Juni 2018 von Porsche gehalten. Mit dem in der Vmax nicht limitierten uneingeschränkten Porsche 919 Hybrid ist Timo Bernhard damals den Ring in 5 Minuten und 19,55 Sekunden gefahren.

Mit der zweitschnellste Runde auf der Nürburgring-Nordschleife überhaupt haben Romain Dumas und Volkswagen eine sensationelle Leistung hingelegt. Trotzdem betont Dumas seinen Respekt vor Stefan Bellofs unglaublicher 6:11,13-Runde von 1983 – mit völlig anderen technischen Standards und Sicherheitsvorrichtungen und einer Nordschleife, die viel weniger glatt war als heute. Bellof, soviel steht fest, bleibt ein Held. Doch auch Dumas hat seinen Status als Legende eindrucksvoll dokumentiert.