Audis laut Presseabteilung “wichtigster Lauch des Jahres” war sorgsam choreographiert: 2015 lancierten die Ingolstädter bereits eine Konzeptstudie, gefolgt von einem Sportback-Derivat; über das Jahr 2018 hinweg organisierte Audi Mitfahrten und Fahrten in verschiedenen Entwicklungsstufen, jetzt war das Serienauto zu fahren – und zwar in Abu Dhabi, wo Anfang Dezember Temperaturen herrschen, bei denen sich nicht nur Autotester, sondern auch Lithium-Ionen-Akkus besonders wohlfühlen.

Das dortige Terrain ist abwechslungsreich: Neben städtischen Umfeld gibt es Autobahnen mit relativ hohen, allerdings strikt überwachten Tempolimits zwischen 120 und 160 km/h, anspruchsvolle Sandpisten – und auch eine Bergstrecke, die zum schönsten gehört, was der Nahe Osten zu bieten hat: Der Weg zum Jebel Hafeet Park windet sich in 21 Kehren aus der Ebene auf stolze 1240 Meter. Oben angekommen wartet die Aussicht auf die Thermalquellen des Green Mubazzarah – und auf traumhafte Rekuperationsraten bei der Bergabfahrt. Denn ein Teil der Energie, die in die Auffahrt investiert wurde, wird bei der Abfahrt wieder zurückgewonnen und eingespeist.

Die Produktion im ehemaligen A1-Werk in Brüssel hat bereits begonnen, und die gefahrenen Modelle besitzen den hohen Perfektionsgrad, der von einem Audi-Serienmodell erwartet werden kann. Verzögerungen bei der Einführung sind einem neuen Softwarestand geschuldet, der den Antriebskomfort verbessern soll und den mittlerweile besonders gestrengen Behörden noch einmal zur Begutachtung und Genehmigung vorgelegt werden muss. Spekulationen, daß es Schwierigkeiten bei Preisverhandlungen mit dem Zulieferer der Batteriezellen gäbe, werden von Audi bestritten. Die Firma LG erfülle die Verträge. Und man beteuert auch, daß die Preise für Batterien in Zukunft weiter sinken würden – ein wichtiges Narrativ bei der Einführung der Elektromobilität.

Kantig und aerodynamisch

Von außen hat sich seit 2015 gar nicht so viel geändert: Der e-tron, der sich durch einen cW-Wert von lediglich 0,27 auszeichnet, ist proportioniert wie ein verlängerter Q5, behält jedoch seine eigenständige Form. Sie wird geprägt durch ein selbstbewusstes Frontgebiß, kantig-horizontale Linien und ein Rückleuchtenband, das sich über die gesamte Fahrzeugbreite erstreckt. Das ganze wirkt durchaus ansehnlich und ist deutlich weiter von einem Q5 entfernt als das Konkurrenzmodell Mercedes-Benz EQC vom GLC oder gar die elektrifizierte Variante des BMW X3 von ihrer konventionell angetriebenen Basis.

Zwar steht der e-tron auf der etablierten MLB-Architektur von Audi, die Änderungen sind jedoch umfangreich. Unter anderem haben die Ingolstädter Entwickler die Crashstruktur völlig verändert. Die Crashfestigkeit der Akkus übersteigt die anspruchsvollen gesetzlichen Vorgaben nochmals deutlich.

Die im Vergleich zum Q5 verlängerte Karosserie besitzt praktische Vorzüge: Der 490 cm lange Crossover bietet reichlich Platz für bis zu fünf Personen, der hintere Knieraum ist eindrucksvoll. Und auch der Gepäckraum ist mit 600 Litern durchaus großzügig ausgefallen. Unter der Vorderhaube befindet sich übrigens ein zusätzlicher, mit 60 weiteren Litern recht bescheiden dimensionierter Kofferraum, der auch als “Frunk” (front trunk) bezeichnet wird. Er wird von den mitgelieferten Ladekabeln fast vollständig ausgefüllt und Audi erwartet offenbar nicht, daß er von den Passagieren eifrig genutzt wird. Die Entriegelung erfolgt nicht etwa über die Fernbedienung oder eine günstig plazierte Taste, sondern über einen klassischen Haubenzug. Und besonders liebevoll ausgekleidet ist dieses Fach ebenfalls nicht.

Dafür wirken Interieur und Cockpit des e-tron ausgesprochen futuristisch. Die horizontal geprägte Armaturentafel ist von großzügig verglasten, berührungsempfindlichen Flächen geprägt. Materialien und Verarbeitung sind sehr hochwertig, das Vierspeichen-Lenkrad passt ebenso gut in den e-tron wie der breite Wählhebel. Schade ist allerdings, daß Audi das große Fach in der Mittelkonsole ohne Abdeckung belassen hat. Wer Mobilgeräte, Kabel und sonstige Kleinigkeiten planlos in die Ablage legt, bereichert das architektonisch-kühl gestaltete Cockpit leicht um eine ungewollt chaotische Note.

Immerhin 200 km/h

Dirigiert wird von dort aus ein Antrieb, der auf Anhieb überzeugt. Die zwei Elektromotoren, je einer an der Vorder- und Hinterachse, liefern 265 kW/360 PS und 561 Nm Drehmoment; im Boost-Modus klettern die Werte bis zu acht Sekunden lang auf 300 kW/408 PS und 664 Nm. Um diesen Modus zu nutzen, muß überflüssigerweise per Wählhebel ein “S”-Modus vorgewählt werden – überflüssig deshalb, weil ohnehin ein Kickdown-Pedal verbaut ist. Vom Start weg liefern die E-Motoren spontanen Schub, das Beschleunigungserlebnis fällt erst oberhalb von 150 km/h etwas ab. Der Sprint von 0 auf 100 km/h dauert 6,6 Sekunden, im S-Modus sinkt der Wert auf 5,7 Sekunden. Bei glatten 200 km/h läuft der e-tron in den Abregler.

Ein kritisches Kapitel sind Verbrauch und Reichweite: Über 400 Kilometer weit will der e-tron Quattro im WLTP-Zyklus kommen, der sich auch bei diesem Auto als völlig unrealistisch entpuppt. In Wirklichkeit haben wir auf der ersten, 186 Kilometer langen Etappe über 75 Prozent der Ladekapazität aufgezehrt. Über Mittag wird der e-tron an Schnelladestationen wieder mit Strom vollgepumpt, die Dieselgeneratoren laufen vermutlich auf Hochtouren. Und die nachmittägliche Rückfahrt, auch mit zusätzlichen Fotofahrten keine 300 Kilometer lang, wäre ohne den “Range”-Modus, der die Klimaanlage abschaltet und die Höchstgeschwindigkeit auf 90 km/h begrenzt, mit leergefahrener Batterie am Straßenrand geendet.

Fürs Aufladen gibt es übrigens verschiedene Systeme, und der e-tron ist sogar für induktives Laden ausgelegt. Schade, daß dieser bequeme, wenn auch teure und weniger effiziente Ansatz dem Kunden noch nicht angeboten wird. Wer sich überlegt, einen e-tron zu kaufen, sollte sich darüber im klaren sein, daß längere Reisen gut vorgeplant sein wollen – und sich auf erkleckliche Stromkosten und längere Wartezeiten beim Nachladen einstellen.

Ein Multitalent

Angesichts des beträchtlichen Leergewichts von knapp 2,5 Tonnen, von denen rund 700 Kilogramm auf die 95-kWh-Lithium-Ionen-Akkus entfallen, ist das Fahrverhalten erstaunlich leichtfüßig. Mit seiner variablen Kraftverteilung und dem präzise regelnden, mehrstufig abschaltbaren ESP-System läßt er sich sogar zum Querfahren animieren. Einen Sportwagen hat Audi hier dennoch nicht auf die Räder gestellt.

Und auch keinen Geländewagen, wenngleich sich die Bodenfreiheit um mehrere Zentimeter vergrößern läßt. Damit und mit Hilfe des elektronisch regulierten Allradantriebs kommt der e-tron relativ weit, doch für anspruchsvollere Einlagen fehlt ihm zum Beispiel die erforderliche Achsenverschränkung.

Dafür bietet er Komforterlebnisse auf Oberklasse-Niveau. Geräumig, komfortabel luftgefedert und sehr leise gleitet der e-tron bis in hohe Geschwindigkeitsbereiche wie eine Luxuslimousine über die Straße. Die Elektromotoren sind aufwendig gekapselt, um die hochfrequenten Geräuschemissionen zu unterdrücken. Gegenschall-Systeme funktionieren im Frequenzspektrum von Elektromotoren nicht mehr zuverlässig.

Der Audi e-tron bietet Assistenzsysteme auf höchstem Niveau – eine Funktion des Modularen Infotainment-Baukastens MIB 2+. Und es gibt ihn mit einem besonderen Gimmick: Gegen Aufpreis lassen sich die konventionellen Außenspiegel durch Kameras ersetzen; das Bild wird in Echtzeit auf Bildschirme in der vorderen Türverkleidung projiziert. Leider ist der stilistische Effekt weniger spektakulär als erwartet, denn die Kameras sind relativ klotzig. Und die Projektionsdarstellung ist gewöhnungsbedürftig: Es fehlt die Klarheit und natürliche Dreidimensionalität eines Spiegels. Wir würden für dieses Extra kein Geld ausgeben, und es ist auch nicht geplant, diese Außenspiegel über die Audi-Modellpalette hinweg auszurollen.

Der Einstiegspreis für den e-tron liegt bei 79 900 Euro. Dafür ist er bereits sehr gut ausgestattet, wenngleich sich der Preis natürlich leicht nach oben treiben läßt – beispielsweise indem die serienmäßigen 18-Zoll-Felgen durch 19- oder 20-Zöller substituiert werden oder das schöne Panoramadach geordert wird. Bei der Innenausstattung bietet Audi zahlreiche reizvolle Kombinationen an.

Zu den wichtigsten Wettbewerbern des Audi e-tron 55 Quattro zählen der Jaguar I-Pace EV 400 und der kommende Mercedes-Benz EQC 400. Aus den USA kommen der inzwischen etwas angestaubte Tesla Model S und der ausladend dimensionierte Tesla Model X. Das Angebot an Elektroautos der Premium-Klasse wird in den nächsten Jahren weiter wachsen. Und das ist gut so, denn Konkurrenz belebt das Geschäft. Angesichts der realen Reichweite und der nach wie vor problematischen Ladestruktur gilt allerdings unverändert: Der potentielle Kunde sollte wissen, worauf er sich mit einem Elektroauto einläßt. Und daran ändert auch dieser “wichtigste Audi des Jahres” nichts.


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QuelleAudi
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1 Kommentar

  1. Blöd nur dass dieser “angestaubte Tesla Model S” und der “ausladend dimensionierte Tesla Model X” noch um meilen weit voraus sind. Tesla hat immernoch die größere Reichweite, höhere Top Speed, schnellere Beschleunigung, eine funktionsreiche App, automatische Türen (im X), Supercharger Network, Autopilot und mehr. Da müssen die deutschen schon nochmal eine ordentliche Schippe nachlegen um damit ernsthaft zu konkurrieren.

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