Noch vor wenigen Jahren hieß es, die Zukunft von Maserati sei elektrisch. Jüngst wurde diese Aussage revidiert: Sie ist auch elektrisch, aber nicht nur. Ein besonders schönes Beispiel dafür ist der Maserati MC20, der im September 2020 präsentiert wurde und in Kürze auf den Markt kommt. Er ist Teil eines Plans, mit dem der Stellantis-Konzern die italienischen Standorte stärken will.
Zum Beispiel das Maserati-Werk Viale Ciro Menotti in Modena, das wir uns ansehen, bevor wir zum Auto geführt werden. Seit 1940 ist Maserati hier zuhause, bis Ende 2019 wurden hier zusammen mit dem GranTurismo und GranCabrio Hochleistungs-Modelle von Alfa Romeo gebaut. Angetrieben werden sie alle von Motoren, die von Ferrari gebaut worden. Doch da der Liefervertrag ausläuft, hat Maserati beschlossen, sich des Themas selbst anzunehmen.
Noch immer fühlt sich es sich wie eine Zeitreise an, wenn man durch die Tore der Viale Ciro Menotti eintritt; sie schönen Fabrikgebäude aus rotem Backstein erinnern an vergangene Zeiten. Doch die nostalgischen Gefühle verschwinden schnell, sobald die moderne High-Tech-Ausstattung in Augenschein genommen wird: Maserati hat viel investiert , um die alternde Fabrik auf den neuesten Stand zu bringen – und gleichzeitig das Erbe des Standorts zu respektieren.
Das Werk in Modena wurde um eine neue Motorenprüfstätte erweitert, eine neue Lackiererei, ein Testzentrum für Elektro- und Hybridantriebe und eine Werkstatt für Veredelung. Dies wird der wichtigste Produktionsstandort für den MC20 und seine Derivate sein; andere Maserati-Modelle wie Ghibli, Quattroporte, Levante und der Nachfolger des GranTurismo werden in Turin gebaut.
Zeit, sich dem Fahrzeug zuzuwenden, und zwar auf dem nahegelegenen Autodromo di Modena. Es handelt sich noch um ein Prototyp aus der Vorserie, durch entsprechende Aufkleber leicht zu identifizieren. Der erste Blick: Es ist überraschend, wie breit und stattlich der MC20 im realen Leben aussieht; auf den Fotos wirkt er deutlich kleiner.
Front und Heck sind unverkennbar Maserati: Die Bugpartie zeichnet sich durch eine große Öffnung mit zentral montiertem Tridente und dem Frontsplitter aus, der über die gesamte Fahrzeugbreite läuft. Das Seitenprofil ist vom berühmten Maserati MC12 inspiriert, und das Heck setzt sich mit durchlaufender Spoilerlippe, LED-Rückleuchten, einen zentral montierten Doppelauspuff und Diffusor höchst eindrucksvoll in Szene. Eine hübsche Geste sind die Kühlöffnungen in Form des Tridente.
Im Gegensatz zum historischen MC12 bezieht sich die 20 im Namen des MC20 nicht auf die Anzahl der Zylinder, sondern auf das Erscheinungsjahr. Er ist mit dem völlig neuentwickelten einem Doppel-Einspritzsystem. Die Technologie ist aus der Formel 1 abgeleitet und hilft, ein neues Leistungsniveau zu erreichen: 463 kW/630 PS bei 7500 U/min und 730 Nm Drehmoment von 3000 bis 5500 U/min. Das genügt für den Sprint von 0 auf 100 km/h in 2,9 Sekunden, von 0 auf 200 km/h in 8,8 Sekunden und eine Vmax von über 325 km/h.
Der V6-Motor verfügt über einen 90-Grad-Zylinderwinkel, um den Schwerpunkt mit den unter dem Motor montierten Turboladern abzusenken. Er ist mit einem 8-Gang-Doppelkupplungsgetriebe gekoppelt, das seine Kraft über ein mechanisches, optional ein elektronisches Sperrdifferential auf die Straße bringt.
Während der zweijährigen Entwicklungsdauer wurde größtes Augenmerk auf einen niedrigen Schwerpunkt gelegt, und so verfügt der MC20 über ein Kohlefaser-Monocoque, das nur 100 kg wiegt. Aus Gewichtsgründen wurde auch weitgehend auf aktive Aero-Elemente verzichtet; insgesamt konnte dass Leergewicht unter 1500 kg gedrückt werden, bei einem sehr niedrigen Schwerpunkt.
Der MC20 verfügt über eine Doppelquerlenker-Aufhängung vorn und hinten sowie adaptive Dämpfer; die Bremsen werden von Brembo zugeliefert, gegen Aufpreis gibt es Carbon-Keramik-Bremsen. Beim Öffnen der Schmetterlingstüren erlebt man einige Überraschungen: Im Gegensatz zu anderen Mittelmotor-Supersportwagen, bei denen die Carbon-Wanne ungewöhnlich schmal ist, ist der Einstieg in den MC20 leicht. Und die Raumverhältnisse, wenn man einmal Platz genommen hat, sind großzügig.
Die schlanke Mittelkonsole aus Kohlefaser-Verbundstoff sieht nicht nur gut aus, sondern sie trägt auch wesentlich zum Raumgefühl bei. Der Innenraum selbst ist wie ein Kunstwerk gestaltet, als Symbiose aus Leder, Alcantara und Kohlefaser, um ein funktionales und fahrerorientiertes Cockpit von hoher Ästhetik zu schaffen. Die Anzahl der Tasten ist auf ein Minimum reduziert: Es gibt lediglich ein Einstellrad für die fünf verschiedenen Fahrmodi (Wet, GT, Sport, Corsa und ESC Off), Tasten für die Getriebesteuerung, die Fensterheber und den Lautstärkeregler.
Praktisch alle anderen Bedienelemente befinden sich entweder am Lenkrad oder im Touchscreen-Querdisplay. Die Instrumentierung ist ebenfalls vollständig digital und zeigt alle relevanten Informationen gemäß dem gewählten Antrieb an.
Gestartet wird der Nettuno-V6 per Knopfdruck am Lenkrad. Es klingt für einen V6 eindrucksvoll, kommt aber nicht an das Klangbild des V8 im GranTurismo oder gar des V12 im MC12 heran. Wie andere Hersteller muss sich auch Maserati mit den harschen Lärmvorschriften befassen, mit denen die EU-Bürokratie ihre Untertanen beglückt. US-Kunden werden sich eines erheblich attraktiveren Klangbildes erfreuen können. Nach einer kurzen Fahrt durch das Zentrum von Modena mit dem Kopfsteinpflaster, das den vernünftigen Abrollkomfort des MC20 unterstreicht, geht es auf die Teststrecke Autodromo di Modena.
Bereits in der ersten Runde ist das Fahrgefühl überwältigend. Die Beschleunigunga-Orgie hört nicht auf, bis ich den Bremspunkt für die erste Kurve erreiche. Die Lenkung ist direkt und präzise, es gibt praktisch keine Seitenneigung. Die Bremskraft ist beeindruckend, die Keramikbremse für Normalfahrer vielleicht sogar zu aggressiv. Die Gangwechsel erfolgen praktisch verzögerungsfrei, wobei die automatische Rückschaltung in den ersten Gang bei engen Kurven teilweise störend ist; vielleicht wird die Abstimmung für die Serie noch angepasst. Beim Sprung vom Corsa- in den Sport- oder GT-Modus wird das Auto weicher und umgänglicher.
Übrigens ist die kurze Entwicklungszeit auch auf den Einsatz eines der fortschrittlichsten Fahrsimulatoren der Welt zurückzuführen. So konnte Maserati mehr Parameter in kürzerer Zeit testen und optimieren. Digital erstellte Set-Ups werden in realen Prototypen installiert und auf der Straße und Piste ausgiebig getestet, um die Ergebnisse zu validieren.
Über die Serienausstattung hinaus können die Kunden aus einer Reihe von Sonderausstattungen wählen, darunter ein Vorderwagenlift, das Sonus-Faber-Audiosystem, spezielle Kohlefaser-Anbauteile und die Keramikbremsen. Auf den geschlossenen MC20 folgt ein Spider, anschließend eine batterie-elektrische Version. Und es ist kein Geheimnis, dass Maserati mit einer speziellen Rennversion des MC20 zum Motorsport zurückkehren will. Diese Vielseitigkeit der Plattform verschafft dem MC20 einen gewissen Wettbewerbsvorteil.
Die Auslieferungen beginnen in Kürze; unsere Erlebnisse mit dem Vorserienauto weckt hohe Erwartungen für die neue Ära bei Maserati.
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