Das war ja klar: Stau auf der Autobahn A52 kurz vor dem Kreuz Breitscheid. Der Verkehr wird zäh wie Honig, obendrein regnet es. Doch Audi-Entwickler Stefan Rietdorf hat darauf nur gewartet. „Andere jagen Tornados, wir jagen Staus“, sagt der Ingenieur, der die automatisierten Fahrsysteme des Wagens entwickelt hat. Wir sind mit dem Audi A8 extra vors Kreuz Breitscheid gefahren – hier herrscht fast immer Stau-Garantie.

Jetzt gilt’s: Im digitalen Instrumentendisplay des A8 blinkt „Staupilot verfügbar“ auf. Rietdorf drückt den silbernen Knopf auf der Mittelkonsole mit dem etwas hochtrabenden Namen „Audi AI“; das steht für „Artificial Intelligence“. Dann nimmt er die Hände vom Lenkrad und übergibt die Steuerung dem Computer. Jetzt macht der Wagen alles selbst: Lenken, bremsen, Abstand halten. Anhalten, warten, wieder anfahren. Bei ganz langsamem Tempo fährt der A8 extra weit am Fahrbahnrand, um die Rettungsgasse zu bilden.

Nun kann der Fahrer alles machen, was am Steuer eigentlich streng verboten ist: Einen Film auf dem Bordmonitor gucken, mit dem Handy spielen, Emails abrufen. Sogar als ein Lückenspringer plötzlich in unsere Spur einschert und der Audi scharf bremst, bleibt Rietdorf gelassen. Ein normales Assistenzsystem würde jetzt zwar warnen, aber sofort nach dem Fahrer rufen und aus dem geführten Modus aussteigen. Der Staupilot bleibt weiter am Ball, egal wie lange der Stau dauert. Einzige Bedingung: Das Tempo darf 60 km/h nicht überschreiten. Ansonsten deaktiviert sich der Staupilot nach einem Signal und der Fahrer muss wieder ans Ruder.

Ebenfalls nicht möglich ist ein automatisierter Spurwechsel. Wer also ausscheren will, muss das von Hand machen (ein Eingriff ins Lenkrad ist jederzeit möglich), kann dann aber den Piloten per Knopfdruck sofort wieder einschalten. Realistisch betrachtet macht das aber mehr Sinn als der automatisierte Spurwechsel bei der Mercedes E-Klasse oder beim BMW 5er, der nicht immer funktioniert und zudem sehr lange dauert. Das wissen übrigens auch die Entwickler dort, aber als Tesla von den Fanboys in den Medien für dieses Feature gepriesen wurde, hat man es eben dazugenommen.

Was heißt Level 3?

Doch was ist eigentlich der Unterschied des „Level 3“ zu den bereits bekannten Assistenzsystemen? Schließlich gibt es zum Beispiel den „Autopiloten“ bei Tesla oder den „Drive Pilot“ bei Mercedes. Und Audi, Mercedes, Tesla, Volvo oder BMW können bereits bei höherem Tempo automatisch Abstand halten, lenken und zum Teil sogar die Spur wechseln.

Doch wenn man genau hinsieht, handelt es sich dabei noch um Mogelpackungen, die maximal den Level 2 erreichen und in der Praxis alle dasselbe Problem haben: Erstens funktionieren sie nur für kurze Zeit und zweitens kann und darf man sich im Ernstfall nie komplett auf die Technik verlassen. Selbst Tesla musste seinen „Autopiloten“ nach einigen Zwischenfällen wieder entschärfen: Nach dem Software-Update 8.0 mahnte das System wieder öfter dazu, die Hände ans Lenkrad des Elektro-Gleiters zu nehmen.

Bei Audis Stau-Pilot dagegen darf der Fahrer das Steuer wirklich ganz aus der Hand geben und dem Computer kilometerweit das Steuer überlassen. Kein Warnton mahnt schon nach wenigen Sekunden oder Minuten dazu, die Hände nicht zu lange vom Lenkrad zu lassen.

Solange das Tempo nicht über 60 km/h steigt, ist der Computer dran. „Das System funktioniert an allen Autobahnen und zweispurigen Straßen mit abgetrenntem Mittelstreifen“, sagt Stefan Rietdorf. Also nicht im Stadtverkehr, aber zum Beispiel auf dem Münchner Ring.

Damit das System zuverlässig und mit den nötigen Redundanzen funktioniert, braucht es allerdings eine ganze Armada an Sensoren:

– Die Frontkamera hinter der Windschutzscheibe erkennt Objekte und sorgt dafür, dass sie richtig klassifiziert werden – etwa die Art des Fahrzeugs (Lkw oder Pkw). Reichweite: 100 Meter.

– Der Radarsensor reicht 200 Meter nach vorn und sitzt rechts unten im Stoßfänger. Auf der linken Seite befindet sich eine identisch aussehende Abdeckung – aber nur aus kosmetischen Gründen. Das Radar erkennt nicht nur das vorausfahrende Fahrzeug, sondern im Idealfall auch schon dessen Vordermann. Zudem dient das Radar als Rückfallebene, falls andere Sensoren ausfallen.

– Unterhalb des Kennzeichenträgers verbirgt sich hinter einer weiteren Abdeckung der Laserscanner (andere Hersteller nennen ihn Lidar-Sensor). Der Laser tastet einen Bereich 100 Meter vor dem Fahrzeug ab und kann sowohl statische als auch dynamische Objekte erfassen.

– Vier Eck-Radare hinter den vorderen und hinteren Kotflügeln mit überlappenden Erfassungsbereichen erkennen den kreuzenden und einscherenden Verkehr; Reichweite: 70 Meter.

– Zusätzlich gibt es noch Ultraschallsensoren für den Nahbereich.

– Eine weitere Kamera verbirgt sich hinter der digitalen Instrumentierung im Cockpit und beobachtet den Fahrer. Geprüft werden dabei unter anderem die Augenbewegungen, um zu erkennen, ob der Fahrer gerade zur Übernahme des Lenkrads bereit wäre.

Koordiniert werden alle Sensoren über das „zFAS“ (zentrales Fahrerassistenzsteuergerät). Das Hirn des Stau-Piloten mit einem NVIDIA-Chipsatz hat in etwa die Größe eines Taschenbuches. Während andere Hersteller insgesamt mit weniger Hardware für ihre automatisierten Fahrfunktionen auskommen, betont Audi seine Redundanzen. Selbst wenn das zentrale Steuergerät ausfalle, könnten andere Systeme übernehmen. „Auch das Bremssystem des Wagens ist redundant, es kann sowohl über das ESP-Steuergerät als auch überden elektronischen Bremskraftverstärker gesteuert werden“, so Audi-Entwickler Rietdorf.

Die Rechtslage bremst Audi aus

Allerdings gibt es einen entscheidenden Haken. Der Staupilot ist im Prinzip serienreif – bestellen kann man ihn zum Markstart des A8 aber nicht. Denn während Deutschland in Sachen autonomes Fahren im globalen Vergleich sehr weit ist und die gesetzlichen Grundlagen bereits geschaffen hat, fehlt es an internationalen Standards.

Für den A8 ist das Pech, denn als erste Level-3-taugliche Serienlimousine hätte der Wagen den bei Audi in letzter Zeit vermissten „Vorsprung durch Technik“ mal wieder vorlegen können. Ein Image-Gewinn, den die Marke gut gebrauchen könnte. Im schlimmsten Fall kann der Staupilot erst im A8 verkauft werden, wenn andere Hersteller bereits nachgezogen haben.

Letztlich dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis die ersten Autos nicht nur assistiert (Level 1) oder geführt (Level 2), sondern wirklich automatisiert (Level 3) auf deutschen Autobahnen unterwegs sind. In weiteren Schritten soll je nach Rechtslage das mögliche Tempo auf 130 km/h ausgeweitet werden. Für die meisten Länder der Erde würde das bedeuten: Hochautomatisiertes Fahren auf der Autobahn von der Auffahrt bis zur Ausfahrt. Vom wirklich autonomen Fahren freilich wäre selbst das noch weit entfernt.


Dieser Text wird von Focus Online zur Verfügung gestellt.



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QuelleAudi
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